Neben der Golden Gate Bridge, der Transamerica Pyramid und den Cable Cars zählen die zahlreichen im viktorianischen Stil erbauten Wohnhäuser wohl zu den bekanntesten Wahrzeichen von San Francisco. Besonders die Painted Ladys am Aloma Square sind für die Millionen von Touristen, die jedes Jahr in die nordkalifornische Stadt am Pazifik reisen, begehrte Fotomotive. Der größte Teil der rund 1600 noch erhaltenen Gebäude stammt aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Damals ließ sich ein Haus für rund 800 Dollar erwerben. Heute wechselt nur selten eines unter einem Millionenbetrag den Eigentümer. Das Leben in San Francisco ist teuer geworden. Für den amerikanischen Durchschnittsbürger ist die Stadt kaum noch bezahlbar. Grundstückspreise, Mieten und Lebenshaltungskosten sind astronomisch hoch. Der Hintergrund: Spätestens seit dem Aufkommen der dot.coms Ende der 1990er Jahre etablierte sich hier die Speerspitze der Hightech-Elite aus dem Silicon Valley. Kreative aus der ganzen Welt lassen sich hier nieder, um in der Stadt oder in einem der Gewerbegebiete, die bis nach San José im Südosten reichen, zu arbeiten. Milliarden von US-Dollar werden investiert und umgesetzt. Entsprechend hoch sind die Gehälter. Selbst junge Fachkräfte der IT-Branche mit wenigen Jahren Berufserfahrung verdienen hier schnell über 200.000 US-Dollar im Jahr. Viel Geld, das sich aber auch genauso schnell wieder ausgeben lässt. Zum Beispiel, um eine der schmerzlich teuren Wohnungen anzumieten. Wer darauf verzichten und sein Budget schonen möchte, kann sich einen Platz in den unzähligen Wohngemeinschaften der Stadt suchen. Aber auch die sind nicht billig. Selbst für ein Mehrbettzimmer bezahlt man im Monat 1.200 Dollar aufwärts. Noch mal deutlich teurer wird es, wenn man ein eigenes Zimmer beziehen möchte. Viele WGs gleichen Kommunen, in denen ein Dutzend oder mehr Bewohner alles miteinander teilen. Wenn man schon gemeinsam wohnt, wieso dann nicht auch gleich gemeinsam arbeiten?
Auch in der 22., Ecke Guerrero Street stehen hübsch aneinandergereiht die Häuser aus der viktorianischen Zeit. Das Haus mit der Nummer 3387 ist zwar im Vergleich zu den Painted Ladys etwas weniger auffällig, aber dafür umso idyllischer. Grau-weiße Fassade, ein paar dezente Ornamente und Verzierungen, ein leicht vorstehender Erker. Auf einem Metallschild, das über der Eingangstür hängt, steht: SpiralMuse - Home of Well Being. Es ist noch gar nicht so lange her, da nahm hier eine neue Idee seinen Anfang.
Wie es im Jahr 2005 im Inneren des Hauses aussah, verrät die Website: codinginparadise.org/coworking/.[1] Der Betreiber der Website warnt gleich zu Beginn: „…the information on this page is now out of date and is kept for historical reasons.“ Auf den Fotos sieht man Brad Neuberg und Elana Auerbach. Sie blicken freundlich in die Kamera. Der Hintergrund der Fotos wechselt. Mal sieht man die Küche, mal das Arbeitszimmer oder den schmalen Garten. Die Einrichtung ist gediegen und gepflegt. Gelbe, orangene und rote Farben strahlen eine angenehme Wärme aus, das ganze Haus verströmt eine esoterische Note. Auf einem Foto sieht man einen kleinen buddhistischen Schrein. Auf dem obersten Foto der Website sitzt das Pärchen vor ihren Laptops. Ganz im Hintergrund steht eine gemütliche Couch. Der Titel des Fotos lautet: „The Main Coworking Space“. Andere Bildunterschriften lauten: „The Back Porch of the Coworking Space, Relaxing in the Coworking Space, Taking a Break in the Kitchen, Full Kitchen Usable by Coworkers“ und „The Main Coworking Space, Furnished with Art, Couches and More“.
Es war der Programmierer und Autor Brad Neuberg, der vermutlich zum ersten Mal den Begriff Coworking verwendete. Die Idee dazu entstand aus einem persönlichen Dilemma heraus. Neuberg hatte beide Welten kennengelernt; das Angestelltendasein, als auch die Arbeit als Selbständiger. Zu jener Zeit arbeite er für das Start-up Rojo. Obwohl ihm die Tätigkeit dort Freude machte, war er doch unzufrieden mit sich, denn er vermisste die Freiheit und Unabhängigkeit, die er zuvor als selbständiger Berater kennenlernen durfte. Anderseits schätzte er die Struktur und Kollegialität, die die regelmäßige Arbeit in einem Unternehmen mit sich brachte. Jeden Tag für sich allein arbeiten, sich immer wieder von neuem zu motivieren und einem regelmäßigen Ablauf zu folgen, fiel ihm schwer. Schließlich holte er sich Rat bei der Lebensberaterin Audrey Seymour. Während ihres Coachings entwickelte er einen dreistufigen Plan:[2] Zunächst würde er seinen Job bei Rojo quittieren und sich der Arbeit an Open-Source-Projekten widmen. Dann wollte er sich verstärkt seiner Leidenschaft zuwenden, Artikel und Fachbeiträge zum Thema Open Source zu schreiben. Aber der wichtigste Schritt, den er vollziehen wollte, war ein anderes Konzept der Zusammenarbeit zu entwickeln. Anstatt allein in seinem Kämmerlein zu werkeln, suchte er einen Ort, an dem er mit Gleichgesinnten in Gemeinschaft arbeiten konnte. Der Stein kam schließlich ins Rollen, als er eines Tages seiner Bekannten Elana Auerbach von der Idee und der Suche nach bezahlbaren Räumen erzählte. Auerbach war Mitglied eines feministischen Kollektivs im Spiral Muse. Sie zögerte nicht lange und bot ihm an, für zwei Tage pro Woche das Haus anzumieten. Einzige Bedingung: Er müsste die Räumlichkeiten jedes Mal nach Benutzung wieder in den ursprünglichen Zustand zurückversetzen. Ein überschaubarer Aufwand, aber vor allem war es ein Anfang. Neuberg willigte ein und so öffnete im Jahr 2005 der erste Coworking Space, der offiziell diesen Namen trug.
Um den Gedanken der Community zu stärken und der Arbeit Struktur zu geben, arbeitete er ein festes Tagesprogramm aus. Jeder der beiden Tage sollte für die Coworker um 9 Uhr mit einer gemeinsamen Meditation beginnen. Danach würde gearbeitet. Mittags gäbe es ein gemeinsames Essen. Eine weitere 45-minütige Gruppenaktivität sollte den Nachmittag in zwei Hälften teilen. Schluss wäre pünktlich um 17.45 Uhr; genügend Zeit, um den Coworking Space wieder in sein esoterisches Habitat zurückzuverwandeln.
Es war kein Erfolg auf Anhieb. Einen Monat lang richtete Neuberg jeden Montag und Dienstag den Arbeitsbereich ein, räumte Möbel um, stellte Klapptische auf, setzte sich hin und wartete, dass jemand durch die Tür treten würde. Aber zunächst schien sich niemand sonderlich für seine Idee zu erwärmen. Erst als er begann, in Coffeeshops Flyer zu verteilen und mit den Gästen über seine Idee zu sprechen, ließen sich zögerlich die ersten Interessenten im Spiral Muse blicken. Neubergs erster Coworker hieß Ray Baxter. Rein zufällig machte Baxter genau das aus, was nach ihm tausende Männer und Frauen in die Coworking Spaces der Welt ziehen sollte: Er war ein angehender Entrepreneur, auf der Suche nach einem Arbeitsplatz in einer Community, von dem aus er an seinem eigenen Start-up tüfteln konnte, ohne sich zu sehr an ein Büro mit dessen unvermeidbarer langjähriger Mietlaufzeit binden zu müssen.
Zwei weitere Protagonisten der ersten Stunde waren Chris Messina und Tara Hunt. Sie unterstützten Neubergs Idee durch den Aufbau einer Online Community. Nach und nach sprach sich das neue Arbeitskonzept herum und es wurde bald für die drei absehbar, dass es an der Zeit war, nach dauerhaft nutzbaren Räumlichkeiten Ausschau zu halten. Ein Jahr später, im Jahr 2006, war es schließlich soweit. Messina, Hunt und Neuberg hatten eine neue Lokation ausgemacht. In einer ehemaligen Hutfabrik richteten sie den ersten regulären Coworking Space ein. Unter dem Namen Hat Factory teilten sich drei permanente Bewohner und acht Coworker einen großen open space im Erdgeschoss und drei Lofts im Dachgeschoss. Platz fanden die Coworker an einem großen Tisch. Drum herum standen ein Sofa, mehrere zusammengesuchte Loungestühle, Regale und Pflanztöpfe. Von der Decke hingen mehrere IKEA-Lampenschirme und weit geschwungene Vorhänge. Das Ganze versprühte die Atmosphäre eines Künstlerateliers. Mit dem Unterschied, dass in der Mitte des großen Raumes ein langer Tisch aufgebaut war, an dem bis zu zehn Personen zum Arbeiten Platz finden konnten. Kurze Zeit nach der Eröffnung der Hat Factory gründete Tara Hunt in San Francisco den Citizen Space. Das Konzept verband die lebendige Atmosphäre eines Coffeeshops mit den notwendigen, funktionalen Anforderungen eines Arbeitsplatzes. Coworking sollte es den Nutzern ermöglichen, zu erschwinglichen Preisen einen Arbeitsplatz zu mieten, an dem sie Gleichgesinnte treffen, Ideen austauschen und gegebenenfalls zusammenarbeiten können. Ihre wichtigsten, öffentlich bekundeten Werte lauteten: Gemeinschaft, Offenheit und Kooperation.
Räumliche Zusammenarbeit von Künstlern und Kreativen hatte es natürlich auch schon vorher gegeben. Zum Beispiel die im Jahr 1902 gegründete Pariser Künstlerkolonie...
Auszug aus dem Sachbuch: VON ALTEN UND NEUEN BÜROWELTEN - Wie das Büro zu einem Ort kreativer Zusammenarbeit wird
Autor:
Maik Marten
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ISBN 978-3754128268
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Literatur / Quellen:
[1] http://codinginparadise.org/coworking/
[2] http://codinginparadise.org/ebooks/html/blog/start_of_coworking.html